dark lady

Lorena
© horst decker

Lorena glaubte nicht an Zufälle. Als sie vor einer Stunde an dem Mädchen vorbeigegangen war, hatte deren Handy geklingelt. Sie hatte mitbekommen, dass sich das Mädchen ärgerte, weil der Anrufer offenbar schon aufgelegt hatte, bevor sie das Gespräch annehmen konnte. Auch in dem Laden, hatten ständig Handys geklingelt, sobald sie in die Nähe der Betroffenen kam und nie hatte sie wahrgenommen, dass ein Gespräch zu Stande gekommen war. Besonders schlimm war es an der Kasse gewesen, bis die genervte Kassiererin ihr Handy ausschaltete und die Kunden in der Warteschlange aufforderte, dies ebenfalls zu tun. Aber jetzt, zu Hause war alles wieder normal. Lorena versuchte sich zu erinnern. Sie war heute Morgen sehr viel früher als sonst aufgestanden. Sie war plötzlich aufgewacht und hatte nicht mehr schlafen können. Vielleicht war es die Aufregung, weil sie heute Geburtstag hatte und zum Abend Gäste eingeladen hatte. Auch Kai. Er war erst kürzlich eingestellt worden und galt, wie auch sie, als Nachfolger ihres bereits älteren Chefs. Sie kannte ihn kaum, aber dennoch hatte sie sofort das Gefühl gehabt, dass sie beide mehr verband, als nur ein Arbeitsplatz in der selben Firma. Um die frühe Stunde zu nutzen, hatte sie begonnen, ihr Wohnzimmer aufzuräumen. Danach hatte sie ihr Frühstück zubereitet und die Tageszeitung aus dem Briefkasten geholt. Alles war wie sonst. Eben nur etwas früher. Stopp, als ihr Blick auf die Titelseite der Zeitung gefallen war, hatte sie ein sonderbares Erlebnis. Sie war minutenlang stehengeblieben und hatte auf die Zeitung gestarrt, ohne aber dabei irgend etwas bewusst zu sehen. Sie hatte sich mit einem Ruck aus ihrer Starre befreit, war zurück zum Frühstückstisch gegangen und hatte die Zeitung während des Essens oberflächlich überflogen. Anschließend hatte sie aufgeschrieben, was sie noch für die kleine Feier einkaufen musste. Dabei, ja, jetzt erinnerte sie sich, dabei hatte ihr Handy geklingelt. Anscheinend hatte sich jemand verwählt und bereits aufgelegt gehabt, bevor sie ihr Handy ans Ohr genommen hatte. Welche Gemeinsamkeit gab es? Es musste der Einkaufszettel sein. Als sie ihn zu Hause schrieb, klingelte ihr Handy. Als sie dann im Geschäft den Einkaufszettel benutzte, klingelten wieder Handys. Aber das Mädchen passte nicht zu diesem Schema. Was konnte es noch sein? Lorena griff nach der Zeitung, die noch immer auf dem Tisch lag. Wieder spürte sie, wie sich all ihre Sinne anspannten. Aber warum? Es war eine Zeitung wie immer. Fast die gesamte Titelseite wurde von einem langweiligen Bericht über einen Staatsbesuch beansprucht. Am Rand befanden sich wie immer kleine Notizen, denen sie bisher nie größere Beachtung geschenkt hatte. In ihnen ging es immer um irgendwelchen Promiklatsch. Wie in Trance begann Lorena, sich mit den Notizen zu befassen. Und plötzlich blieb ihr Blick an einem kleinen Wort hängen, das sie nicht einmal kannte - Palindrom. Dort stand, "das heutige Datum ist ein Palindrom". Lorena las weiter: "Palindrome sind Worte oder Zahlen, die von vorn und von hinten gelesen eine identische Aussage haben, so wie das Wort ‚tut' ". Lorena sah sich das Datum der Zeitung genauer an. Es war ihr gar nicht bewusst aufgefallen, dass es diesmal anders geschrieben war. Statt 11. Februar 2011 war das Datum 11022011 geschrieben und die Punkte hinter der Tages- und der Monatszahl waren nur dunkelgrau hingehaucht. Das Datum ihres 33. Geburtstag war also ein Palindrom, ebenso ihr Alter und, es war kein Zufall, dass sie heute Morgen exakt zu ihrer Geburtsstunde aufgewacht war. 3:30 Uhr. Wenn man die Zeit 03:30 Uhr schrieb, wie man es z.B. bei militärischen Datenübertragungen macht, um auch bei schlechter Verständlichkeit gut zwischen 3:30, 13:30 und 23:30 unterscheiden zu können, so war ihre Geburtsstunde ebenfalls ein Palindrom. Das musste die Lösung sein. Es war auch nicht der Einkaufszettel. Beim Schreiben von diesem war ihr spontan ein Spruch eingefallen, der ihr den ganzen Morgen nicht mehr aus dem Kopf gegangen war. Lorena überlegte. Er hatte etwas mit ‚tut' zu tun, Offenbar hatte sie, ohne dass es ihr bewusst geworden war, das Palindrom ‚tut' doch aus der Zeitungsnotiz aufgeschnappt. Anbetrachts ihrer ungewöhnlich frühen Aktivitäten war ihr ein Reim eingefallen: 'Was man früh tut, wird immer gut.', Nein, es war umgekehrt: ‚Es wird immer gut, wenn man's früh tut." Lorena hörte ihr Handy klingeln. Schnell eilte sie in den Flur, drückte die Gesprächannahme-Taste:" tut ... tut ... tut". Das war es. Lorena wusste, dass sie ab heute Morgen um 3:30 zaubern konnte. Reime, die mit einem Palindrom als magisches Schlüsselwort endeten, wurden zu Zaubersprüchen. Lorena lief hastig zu ihrem Schreibtisch, logte ihren Computer im Internet ein und suchte nach dem Begriff ‚Palindrom'. In Sekundenbruchteilen wurden ihr mehr als hundertsechzigtausend Websites mit Palindromen angezeigt und wenige Minuten später spuckte ihr Computerdrucker eine entsprechende Liste aus. Anna, darauf hätte sie selbst kommen können. Sie kannte zwar niemand mit diesem Namen, aber unter ihren Geburtstagsgästen befand sich ihre Freundin Hannah und das war ebenso gut. Was reimte sich auf Hannah, spontan fiel ihr Manna ein. Also ‚Manna wär' jetzt gut für Hannah'. Das würde sie heute Abend ausprobieren! Was gab es noch an nutzbaren Palindromen? Wie besessen studierte Lorena die aus dem Internet kopierte Liste. ‚Aha', was kann man daraus machen, spontan fiel ihr ein Spruch ein und sie schrieb in auf. Kajak, damit konnte sie nichts anfangen, oder? Und während sie leise murmelnd auf ihren Zauberspruchzettel ‚zu meinem Anorak fehlt noch das Kajak' schrieb, hörte sie
ein Poltern an ihrer Garderobe und zu ihrer Verwunderung lehnte an der Stelle, an der ihr Anorak hing, ein nagelneues Kajak. ‚Lagerregal', nein, damit wollte sie sich momentan nicht befassen, auch wenn sie für den Keller durchaus Verwendung sah. Auch ‚Reittier' wollte sie nicht in der Wohnung ausprobieren. ‚Otto' und ‚Bob', da kannte sie niemand mit den Namen. Auch ‚Bob' im Sinne eines Schlittens fand nicht ihre Gegenliebe. Das Wort ‚tot' war ihr zu heikel. ‚Bub', dafür fühlte sie sich noch nicht bereit. ‚Gnudung', ne, so was wollte sie nicht in der Wohnung haben. ‚Rar, neben, nennen, neuen, reger, Renner, Retter, stets, nun', sie schrieb die Worte auf ihren Zauberspruchzettel. ‚Elle, Egge, esse, Radar, Rentner, Rotor, Rotator' - keine Verwendungsmöglichkeit. Lorena saß bis zum späten Abend am Computer, forschte nach weiteren Palindromen und stellte daraus Zaubersprüche zusammen. Wieder klingelte es. Dabei hatte sie doch extra darauf geachtet, die Sprüche, die sie reimte, auch nicht andeutungsweise zu murmeln. Denn das war ihr bereits aufgefallen, geräuschlos hingeschriebene Zauberreime zeigten keine Wirkung. Lorena öffnete die Haustür. Kai überraschte sie mit einem wunderschönen Strauß roter Rosen, küsste sie auf die Wange, wünschte ihr alles Gute zum Geburtstag, blickte sie dabei aber nicht an. Sein Blick war auf die Garderobe fixiert: "Ach, Du hast auch ein Kajak an deiner Garderobe stehen?". Verwirrt sah ihn Lorena an: "Ja, ist das denn ungewöhnlich? Da hat man es doch gleich, wenn man es braucht!" Was Besseres war ihr auf die Schnelle nicht eingefallen. Sie dirigierte Kai in ihr Wohnzimmer. Vielleicht ergab sich, noch bevor die anderen Gäste kamen, die Möglichkeit herauszufinden, welche Vorstellung Kai mit der Einladung verband. Anscheinend gutes Essen, denn kaum hatten sie das Wohnzimmer betreten, sah sie Kai fragend an: "Ich weiß, ich bin zu früh gekommen. Ich hoffe aber, ich habe dich nicht in deinen Vorbereitungen gestört." Und Lorena fiel mit Schrecken ein, dass sie sich so in ihrer Computerrecherche verrannt hatte, dass sie völlig vergessen hatte, das Essen vorbereiten. "Oh je, entschuldige, aber ich war so lange mit Aufräumen beschäftigt, dass ich gar nicht auf die Uhr geachtet hatte. Setzt dich einfach schon einmal, ich springe schnell in die Küche und bereite das Essen vor." Und dann kam ihr eine Idee. Sie fügte hinzu: "Trinken steht ja bereits auf dem Tisch, bedien' dich bitte. So weit ich weiß, wird Hannah etwas zum Essen mitbringen. Irgendwie sprach sie von etwas Exotischem. Lassen wir uns einfach überraschen:" Und während sie in die Küche eilte, murmelte sie vor sich hin: "Hannah bringt zum Fest mir Manna." Kurz darauf klingelte es erneut an der Tür, Hannah, Maria und Benni waren gekommen. Hannah schleppte ein großes Geschenkpaket und überreichte es Lorena: "Ehrlich gesagt, ich weiß nicht genau, was darin ist, Dirk hat es uns besorgt. Aber er hat gesagt, dass Du dich sicher darüber freuen wirst." Lorena stellte das Paket auf den Tisch und sie begannen es gemeinsam auszupacken. Kurz darauf wurde ein wunderschönes, orientalisches Messinggefäß sichtbar. Kai griff nach dem Deckel: "Ich habe so etwas schon einmal gesehen. Es war auch ein Geburtstagsgeschenk. Sie hieß Anna." Er nahm den Deckel ab, schaute erst in das Gefäß und dann in Lorenas Gesicht: "Wie damals, Manna, ein Produkt der Mannaflechte, das nach alttestamentarischer Darstellung die Israeliten bei ihrem Zug durch die Wüste vor dem Verhungern rettete." "Das trifft sich ja gut", warf Lorena ein: "Wir sind ja auch nahe dran, zu verhungern, also greift zu, ich gehe in der Zwischenzeit in die Küche und schaue, wie weit das Essen ist." "Komisch", hörte sie Hannah noch sagen, "vor ein paar Stunden lag bei mir zu Hause schon einmal ein Haufen von dem Zeug auf dem Tisch. Ich wusste gar nicht, was es ist und habe es weggesaugt." Wieder traf sie Kais Blick. Sie musste vorsichtig sein, irgendwie schien es, als vermute Kai, dass sie hinter diesen Ereignissen stand. Aber, er konnte ja nichts wissen. Sie musste einen Test machen. Spontan dichtete sie: "Alle, die mir nah, die singen nun aha." Sekunden später hörte sie Benni aus dem Wohnzimmer rufen: "Komm noch einmal zu uns Lorena, wir haben ja ganz vergessen, dir ein Geburtstagsständchen zu bringen." Kaum betrat Lorena wieder das Wohnzimmer, standen ihre Gäste auf und während Hannah, Maria und Benni ununterbrochen "aha" sangen, stimmte Kai deutlich vernehmbar ‚Happy Birthday' an. Lorena wusste nun, woran sie mit Kai war. Dieser funkelte sie wütend an: "Stell' sie ab." Was sollte sie tun? Ihre drei Freunde sangen ununterbrochen ‚aha'. Lorena hatte sich keine Gedanken darüber gemacht, dass sie den Zauber von vornherein hätte begrenzen müssen. Schließlich schob Kai die drei aus der Wohnungstür, damit wieder Ruhe eintrat. Lorena war nun mit Kai alleine. Noch vor wenigen Minuten hatte sie sich nichts sehnlicher gewünscht. Nun aber machte es ihr Angst. Kai kam auch sofort zur Sache: "Schön, dass Du einen Anlass dafür geliefert hast, dass wir alleine sind. Dein Geburtstag wird auch dein Todestag sein. Ich hasse dich, seit ich dich zum ersten Mal gesehen habe, denn nur Du stehst meiner Beförderung im Weg." Kai wollte sich auf Lorena stürzen, die aber wich in eine Ecke aus und rief den Spruch, den sie für alle Fälle vorbereitet hatte:"Ich erbet's, hat Abstand stets." Es war, als prallte Kai gegen eine unsichtbare Wand und er zischte mit wutverzerrtem Gesicht: "Ich warne dich, es ist fast Mitternacht und am 23.02.2012 werde ich dreiunddreißig Jahre alt". Lorena dachte kurz nach: "Und, was soll das, das ist zwei Tage zu spät!" "Du naive Eintagshexe", lachte Kai kurz auf, "rechnen kannst Du auch nicht, am 23.Februar 2012 bin ich bei Berücksichtigung der Schaltjahre genau 12021 Tage alt." Lorena lief es kalt über den Rücken. Ihre Macht war gleich vorbei. Es war wenige Sekunden vor Mitternacht. Als nächster war Kai am Zug. Sie überlegte kurz, dann lächelte sie:" Okay, Du hast gewonnen. Du kannst dann tun, was Du willst, aber heute nicht!" Ehe Kai reagieren konnte, rannte sie aus ihrer Wohnung. Wütend folgte ihr Kai. Zwei Tage später, Lorena stellte den Wecker ab und sah sich in der Wohnung um. Maria schlief noch. Was sie über Kai erzählt hatte, hatte Lorena in ihrem Vorhaben bestärkt. Lorena stand auf und ging in die Küche, um das Frühstück für Maria und sich vorzubereiten. Noch war sie ja dreiundreißig Jahre alt. Sie stellte die Kaffeemaschine an und dann sprach sie leise: "Zum Frühstück jede Delikatesse, die ich gerne esse." Es war ein Fehler von Kai gewesen, ihr zu vermitteln, dass es für sie zwei Tage nach dem dreiunddreißigsten Geburtstag noch einen Hexentag gab. Auf dem Tisch befand sich alles, was es an Köstlichkeiten zu essen gab. Langsam setzte sich Lorena auf einen Küchenstuhl, schloss die Augen und sprach ganz langsam: "Kai, den Idiot, den wünsche ich tot."

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